Eine völlig neue Form der Lepraarbeit sollte jetzt in die Wege geleitet werden.
Das Projekt sollte
- gut strukturiert und übersichtlich sein;
- flächenmäßig abgegrenzt sein;
- und als Ansprechpartner vor Ort einen Mediziner haben.
Mit diesen Vorstellungen kam ich 1987 in Den Haag an, und zwar zum 13. Internationalen Lepra Kongress. Über 3000 Leprologen aus aller Welt tauschten hier ihre Erfahrungen bezüglich der Lepraarbeit aus. Ich entwickelte in Den Haag einen gezielten Kontakt zu dem Deutschen Aussätzigen Hilfswerk (DAHW). Im Gespräch mit dem damaligen Präsidenten des DAHW, Herrn Kober, wurden mir einige interessante Möglichkeiten der Zusammenarbeit angeboten. Meine Vorstellungen für ein neues Projekt nahmen konkrete Konturen an. In Absprache mit der Gemeinde St. Vincentius in Dinslaken wurde das Madras Projekt gewählt.
Madras ist die Hauptstadt von Tamil Nadu. Sie gehört zu den Endemiegebieten der Lepra in Indien. Es sind Gebiete, in denen die Krankheit von Generation zu Generation vorkommt.
So wurde schon im Jahre 1971 ein Leprakontrollprogramm für den nördlichen Teil der Stadt vom Deutschen Aussätzigen Hilfswerk (DAHW) organisiert. Für den Süden der Stadt wollte die Indische Regierung ein eigenes Programm zur Leprabekämpfung durchführen. Es blieb allerdings bei der Absichtserklärung.
1987 wurde das Nord-Madras Programm auf den Süden der Stadt ausgedehnt. In Abstimmung mit dem DAHW übernahmen wir in Dinslaken die Aufgabe der Bekämpfung der Lepra in Süd-Madras
Zuständig für die Realisierung des Projektes vor Ort war ein Inder, Dr. Lobbo. So hatten wir vor Ort einen Arzt, einen hochqualifizierten Leprologen, der für uns ein Ansprechpartner war. Ziel des Projektes war die Ausrottung der Lepra in einem Gebiet von rund 18 Quadratkilometern mit 330 000 Einwohnern. In einem seiner Briefe schreibt Dr. Lobbo: "Im Namen der Leprakranken danke ich für Ihre Güte, für Ihre großzügige Hilfe. Richten Sie bitte unseren Dank aus an alle, die bei der Lepraarbeit mitwirken. Hier in Indien sind wir immer wieder überwältigt von der Großherzigkeit und dem Mitgefühl für die Leprakranken seitens der Menschen in Deutschland. Gott segne Sie!"

Um die Lepraarbeit vor Ort näher kennen zu lernen, habe ich mich entschlossen, nach Madras zu fliegen. Begleitet von meinem Sohn, der zu dieser Zeit noch Medizinstudent war, gelang es mir, die Arbeit im Projekt nicht nur betrachtend wahrzunehmen, sondern sofort auch mit Untersuchungen bei den Leprakranken in den Slums von Madras zu beginnen. Die Patienten warteten auf uns in einem Raum, der von der Regierung für diese Zwecke zweimal im Monat zur Verfügung gestellt wurde. Es war eigentlich nur eine kleine Bruchbude, die jedoch noch gut genug war, um Leprakranke zu untersuchen, die Wunden frisch zu verbinden, und die Versorgung mit Medikamenten zu prüfen. Vor dem großen Bild von Gandhi, das damals in keinem Raum fehlen durfte, untersuchte ich die Patienten. Aufgestapelte Karteikarten, ein Tisch und ein paar Stühle stellten die ganze Raumausstattung dar. Es waren für mich nicht nur interessante, sondern auch freudige Begegnungen mit den Leprakranken. Sie bewirteten uns sogar mit Tee und luden uns in ihre Wohnräume ein.
Dr. Lobo ermöglichte uns auch, bei einer anderen Art von Bekämpfung der Lepra mitzumachen, nämlich bei der Aufklärungsarbeit. Nicht nur Leprakranke werden aufgeklärt, z.B. wie sie sich im Alltag mit ihrer Krankheit zurechtfinden sollten, wie sie ihre Tabletten sorgfältig und systematisch einnehmen sollten. Auch deren Familienmitglieder sollten erfahren, wie man die Angst vor der Lepra abbauen kann. Im Rahmen dieser Aufklärungsarbeit organisierte Dr. Lobo alljährlich einen Lepramarsch, um die Allgemeinheit auf die Problematik der Lepra aufmerksam zu machen. So erlebten auch wir einen Lepramarsch in Madras. Ärzte, Krankenschwestern und Studenten marschierten mit uns bei 40° Grad Hitze. Wir gingen durch die Straßen mit Transparenten "Leprosy is curable" und ähnlichen Parolen. Es ist uns tatsächlich gelungen, die Aufmerksamkeit der Straßenpassanten auf uns zu lenken. Die Polizei sorgte für den ordnungsgemäßen Ablauf des Marsches. Nach zwei Stunden kamen wir völlig erschöpft in einer Parkanlage an. Da stand schon ein blumengeschmücktes Rednerpult. Dr. Lobo hatte Hunderte von Zuhörern. Er bemühte sich klarzumachen, dass die Lepra keine Strafe von Gott sei - wie es viele meinten - , sondern eine heilbare Infektionskrankheit. Es war ein spannender, anstrengender und zugleich ein sehr erfolgreicher Tag!

Das Projekt Süd-Madras wurde von Dinslaken aus fünf Jahre mitgetragen und finanziert. Das Ergebnis ließ sich sehen: 2.581 Leprakranke wurden in diesem Zeitraum aufgespürt und 2.365 Leprakranke konnten als geheilte Patienten aus der Behandlung entlassen werden.
1993, während des 14. Internationalen Lepra-Kongress in Orlando, bat mich Herr Kober, der damalige DAHW Präsident, statt Süd-Madras ein Projekt der soeben erforschten Länder der ehemaligen Sowjetunion zu übernehmen.