Es war im Juli 1992. Nach abgeschlossener Lepraarbeit in Estland, begaben wir uns auf den Weg von Tallinn nach Riga. Unser Minibus, mit dem wir zu dritt, d.h. mein Mann, mein Sohn und ich unterwegs waren, war fast leer. Die Hilfsgüter, die wir von Dinslaken auf die Reise nahmen, wurden schon an die Leprakranken in Estland verteilt. So sollte die Reise nach Lettland und Litauen zunächst einen Informationscharakter haben.
Mühelos fanden wir in Lettland das Leprosorium Talsi, ca. 3 km von der Stadt Talsi entfernt.
Der zuständige Arzt, Herr Janis Smits, war nicht aufzufinden. Die Krankenschwestern informierten uns, dass er auch im Krankenhaus tätig ist. Leider konnten wir ihn auch dort nicht finden.
So besichtigten wir das Gelände des Leprosoriums allein. Der zentrale Punkt war eine Baptistische Kirche, die 1938 gebaut und 1945 in ein Lepra-Museum umgewandelt wurde. Grundgedanke dafür war damals, die Geschichte der Leprakranken zu dokumentieren und diese Dokumentation beim Einmarsch der Russen vor Verwüstungen zu schützen. 

Im Altarraum hing das 1938 angefertigte Bild des bekannten lettischen Malers und Schriftstellers, Zanis Sunins, das Christus mitten unter den Leprakranken darstellte. Im vorderen Teil der Kirche befanden sich zwei Vitrinen, in denen Moulagen (Wachsmodelle von krankhaft veränderten Körperteilen) untergebracht waren. Diese Moulagen wurden in Riga in den fünfziger Jahren hergestellt. Sie dokumentieren, wie grauenvoll die Verunstaltungen der noch vor einigen Jahrzehnten lebenden Leprakranken gewesen waren.
Als weitere Exponate fanden wir Kartenmaterial mit statistischen Angaben über die Verbreitung der Lepra in Lettland.

Inzwischen war es uns nach einigen Tagen gelungen, den zuständigen Arzt zu sprechen. Er gab uns sehr viele Informationen nicht nur über die aktuell im Leprosorium lebenden 25 Leprakranken, sondern auch über die Geschichte der Lepra in Lettland.
Er war auch bereit, mit uns die Kranken in ihren Zimmern zu besuchen. Einige von den Kranken waren plötzlich "nicht auffindbar gewesen".
Herr Smits gab an, dass die Leprakranken ganz besonders schüchtern seien. Sie meiden Besuche von fremden Personen.
Er sagte uns, dass sich in den letzten Jahren vereinzelt neue Patienten bei ihm zur Untersuchung meldeten.
Zuletzt war es eine junge Frau mit leprösen Verunstaltungen im Gesicht.
Leider konnten wir diese Kranke nicht sehen. Ursächlich dafür, so meinte er, wäre die kritische wirtschaftliche Lage in Lettland nach dem Zerfall der Sowjetunion, also die sichtbare Verarmung der Bevölkerung.

Herr Smits versicherte mir, dass er zum Zeitpunkt unseres Besuches ausreichend über spezifische Medikamente verfügte.
Ein nochmaliger Besuch der Leprakranken in Talsi ist vorgesehen.

Moulagen
Moulagen


2009

Das Leprosorium Talsi wurde aus wirtschaftlichen Gründen im Jahre 2006 geschlossen. Die Patienten haben sich inzwischen eine Unterkunft und Verpflegung anderweitig gesucht. Sogar Dr. Janis Smits, der bisherige Lepraarzt, der jetzt als Krankenhausarzt tätig ist, hat keinen Kontakt zu ihnen.