Das Baltikum

Die Entscheidung, Leprakranke auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zu suchen, stand für mich felsenfest.
Der erste Ansatzpunkt war das Baltikum. Diese Idee verdanke ich einer lettischen Wissenschaftlerin, Frau Dace Baltsere, der ich rein zufällig im Januar 1990 in Madras begegnete.
In einem Gespräch mit ihr hörte ich vom Vorkommen der Lepra in ihrer Heimat. Diese Aussage bestärkte mich in meinem Vorhaben. Ich erfuhr von ihr sogar die Adresse des lettischen Leprosoriums in Talsi.

Einige Monate später bekam ich im Gespräch mit dem Augenarzt, Herrn Dr. Brand aus Neuötting, der sich mit den Leprakranken in Nepal befasste, die Privatadresse einer Leprologin in Estland, Frau Anne Sarv.
Da s reichte zunächst an Informationen, um einen Briefkontakt aufzunehmen.

Estland

Leprosorium Kuuda
Leprosorium Kuuda

Im Juli 1992 startete ich in Begleitung meines Mannes und Sohnes eine Reise nach Estland, nach Lettland und nach Litauen.
Unser Kleinbus war bis zum letzten Platz mit spezifischen und allgemeinen Medikamenten, mit medizinischen Hilfsmitteln und Bekleidung beladen.

Ziel unserer Reise war die Erforschung der Situation der Leprakranken in diesen drei Ländern, statistische Erhebungen über die Leprakranken, Untersuchung und gezielte Versorgung der Kranken, sowie eine Kontaktaufnahme zu den Ärzten vor Ort.
Nach drei Tagen Fahrt kamen wir in Tallinn an. Dank eines freundlichen und hilfsbereiten Polizisten gelang es uns trotz vieler Schwierigkeiten, noch in der Nacht an der Tür der Lepraärztin anzuklopfen.
Obwohl sie allein wohnt, wartete schon ihre ganze Familie auf uns.
Freundlich, aber recht distanziert richtete man an uns immer wieder die selben Fragen: "Welche Organisation repräsentieren Sie? Wer hat sie zu uns geschickt?"
Es war recht schwierig, nach der anstrengenden Reise nun noch Erklärungen zur Motivation unserer Leprahilfe abgeben zu müssen. Anne Sarv und ihre Familie hielten es einfach nicht für möglich, dass wir aus eigener Initiative eine so abenteuerliche Reise auf uns genommen hatten, um mit Leprakranken in Kontakt zu kommen.
Fast eine Woche waren wir dann in Tallinn. Frau Sarv begleitete uns zu den Leprakranken im Leprosorium Kuuda, das vor fast 100 Jahren gegründet wurde. Mit großem Engagement zeigte sie uns die gesamte Einrichtung einschließlich der Zimmer der Kranken. Sie untersuchte mit uns die Patienten und gab uns hilfreiche Informationen, die notwendig waren, um die Situation der Kranken in Estland zu verstehen.
Auch einige der ambulanten Leprakranken besuchten wir in ihrer Begleitung.

Die Kranken bemühten sich, ihre Krankheitsmerkmale an ihren Körpern zu verbergen, ja geradezu zu verstecken.
Mit großer Mühe gelang es uns, zusammen mit Frau Sarv, als Fremde die Wohnungen der Kranken zu betreten. Nur mit dem Versprechen, die Kranken mit Medikamenten zu versorgen, gestatteten sie uns - und dass noch mit Vorbehalt - sich untersuchen zu lassen.
Ich erinnere mich an einen Leprakranken, der mir sagte, er würde mir nur ein Bein zeigen, da das zweite genauso ausschaue. Er hatte sogar seinen Namen und seinen Wohnort in Tallinn gewechselt, um von der Liste der Leprakranken spurlos zu verschwinden... Als dennoch die Lepraärztin, Frau Sarv, an seiner Tür klopfte, brach er verzweifelt zusammen. "Was sagen die Nachbarn, wenn sie erfahren, dass ich leprakrank bin? Keiner wird mich achten, keiner wird mich grüßen..." - war seine große Angst. "Wie sollen es die Nachbarn erfahren? Ich habe es doch nicht auf der Stirn geschrieben, dass ich eine Lepraärztin bin", erwiderte Frau Sarv.

Gesichtsverstümmelung
Gesichtsverstümmelung

Eine andere Patientin ist mir ebenfalls sehr deutlich in Erinnerung geblieben. Wir klopften an der Tür. Sie warf ihren Haustür- Schlüssel durchs Fenster, als sie Frau Sarv an der Stimme erkannte. Wir gingen zu viert hinein.
Angst und Staunen konnte ich in ihren halb blinden Augen und in ihren Gesten ablesen. "Wer kam hier rein?" Frau Sarv beruhigte sie. Sie sprach halblaut und sanft mit der Patientin. "Es sind Freunde aus Deutschland, auch Ärzte. Sie haben Medikamente mitgebracht, um ihnen zu helfen".
Wir wagten kaum ein Wort zu sprechen. Nach einigen Minuten erlaubte sie uns ihr Zimmer zu betreten. Nach einer Stunde war die eisige Atmosphäre gebrochen. Wir durften die Patientin untersuchen, ihre Wunden an den Beinen frisch verbinden und sie sogar fotografieren.
Wir erzählten ihr von unserer Reise und unserem Vorhaben, die Leprakranken im Baltikum zu versorgen.
Während ich mir anschließend die Hände in ihrer Küche wusch, entdeckte ich Tränen, aber auch Dankbarkeit in ihren Augen. Sie lächelte und wollte etwas sagen. Ich merkte, dass sie sich um jedes Wort besonders mühte. Sie sagte zögernd in deutscher Sprache: "Ich bin glücklich".

2009

Mit der Leprologin Frau Anne Sarv stehe ich kontinuierlich in Verbindung. Sie besuchte mich sogar einige Male in Dinslaken. Sie organisierte des Öfteren „Lepra Ausstellungen“ betreffend der Geschichte der Lepra in Estland in den letzten zehn Jahren. Diese Ausstellungen sollen die Problematik der Lepra im Bewusstsein der Bevölkerung weiterhin wach halten.
Das Leprosorium Kuuda wurde aus wirtschaftlichen Gründen im Jahre 2005 geschlossen.